Von Adolf Fux
Barry
vom Grossen Sankt Bernhard
Die Geschichte eines berühmten Hundes, 1972
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Inhalt
Kleine Weltentdecker
Der Ernst des Lebens
Drill im Schnee
Erste Rettung
usw.
(Anfang und Fortsetzung mit 19 Kapitel ist in Bearbeitung)
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Kleine Weltentdecker
Mächtig drang der Bergsommer vor und sandte zierliche Alpenglöcklein und den dem Vergissmeinnicht verwandten Himmelsherold als Kuriere voraus. Aus der apern Erde hervorquellendes Leben trieb den abschmelzenden Schneerändern nach. Die über der Baumgrenze liegenden Alpmatten und vom Föhn sauber geleckten Wildheuplanken schmückten sich mit bunter Zier, daraus die Schwefelanemone flammend hervorstach. Zum blauen Alpenveilchen gesellte sich bald die goldgelbe Arnika. Neben der vorjährigen metallisch schimmernden Silberdistel erblühte die violette Alpenaster, neben dem grossblumigen Enzian die tiefpurpurfarbene Orchidee, aus unerfindlichen Gründen von den Menschen Männertreu genannt. Binnen kurzem öffneten zwischen Weidland und Felsschroffen die ersten Alpenrosen ihre Knospen, ein Rot entzündend, das sich flutartig ausbreitete und mit dem Abendbrot um die Wette brannte. Selbst totes Gestein schmückte sich mit sprossenden Flechten und neu besternten Moosen, mit den feurig leuchtenden Blumenkronen des schaftlosen Leinkrauts und andern zündenden Polsterarten. Und als Krone des Bergsommerflors waren die weissen Blütenstrahlen des Edelweiss anzuschauen, der keuschen Königin der Bergblumen.
Über dem Blumenschleier gaukelten rotgeflammte, blaubebänderte, gelb und golden gemusterte, wie nach den Moden aller Jahrhunderte zugestutzte Falter, angelockt von Farben und Düften und süssen Geheimnissen. Hummeln läuteten selig summend die Glockenblumen; die Flüelerche erhob sich in gelöster Heiterkeit. Einmütig zirpten die Heuschrecken, als wollten sie zum Lob des Schöpfers ihr Musizieren verstärken. Es war ein Geigen und Flöten allenthalben, als wäre die alte Welt wieder jung geworden.
Und durch diese Welt streunten die Hospizhunde, die Bernhardiner. Auch Bärli und Lion, die patzigen Welpen, durften dabeisein. Welche Wonne! Sie liessen sich vom Zittergras die Nase kitzeln, vom Heidekraut das Fell bürsten. An Steinen wollten sie sich die Milchzähne ausbeissen. Die an allem sich ergötzenden Welpen schnappten nach den Faltern, diesen fliegenden Blumen; sie klopften das Schneehuhn aus dem Busch, jagten die Dohlen, das schwarzgefrackte, immerzu kreischende Bettlervolk, in die Felsen zurück. Auch sonst gab es der Unterhaltung genug: das Echo zu wecken und zu äffen, den Wind zu schnuppern, mit der Rutenspitze zu zucken, mit den Ohren zu wackeln, sich im Lautgeben zu üben und auf etwas loszuschiessen, das sich als Schneemaus entpuppte und wie ein quieksender Fangball mit sich spielen liess. Und entfloh den Tolpatschen Bärli und Lion die eine, geriet ihnen gleich eine andere zwischen die Pfoten, so zahlreich waren diese zierlichen Tierchen aus der Erde geschlüpft, um mit weissen Füsschen blind hintereinander herzurennen wie bis über die Ohren Verliebte.
Die Schneemäuse sind die ältesten Gebirgsbewohner, die wetterfesttesten Tiere Europas; so klein sie sind, haben sie die Eiszeit und andere unwirtliche Perioden überlebt, wie sie immer noch unverzärtelt und anspruchslos die grimmigsten Winter überstehen. Selbst im Winter, wenn die Murmeltiere selig schlafen, bleiben die Schneemäuse wach, wenn auch nicht gerade muntern Sinns. In vielfach verzweigten Röhren vegetieren sie unter der schwersten Schneedecke. Mit Wurzeln, Krokuszwiebeln, Käferlarven und andern spärlichen Zugaben der Natur stillen sie den Hunger. In höchster Not fressen sie das eigene Nest, das aus dem trockenen Gras besteht, das sie während der guten Jahreszeit, wie die vorsorglichen Murmeltiere, zusammengetragen haben. Freilich, ohne diese Polsterung ist es weniger gemütlich in ihrem Mauseloch. Aber darum kommt die Schneemaus nicht um und lebt und liebt weiter. Wenn nun die jungen Hunde die eine oder andere Maus aufstöbern und fressen, als wäre sie ein Leckerbissen, leben tausend andere verborgen und vergnügt weiter. Und verpflanzte man sie in die schönsten Gärten des Tieflandes – sie würden sich nach den wilden und harten Wintern sehnen und mit ihren weissen Füsschen den Heimweg antreten, so weit und so steil er auch wäre.
Längst waren die Welpen um viele Sprünge weiter. Immerzu ging es hin und her durch die verwirrend frische Welt auf und nieder über Steine und Wasserstürze, plan-, zweck- und ziellos durch die hinreissende Unbegrenztheit, bis Bärli ein Murmeltier überraschte, das jedoch behende in einer dieser Röhren verschwand, für die er schon zu dick war. Erst etwas verdutzt schnüffelnd, begann er dann Laut zu geben, als wäre die Jagdlust in ihm erwacht, dieser uralte Hundeinstinkt, von dem man die frommen Bernhardiner längst entwöhnt hat; er lässt aber doch noch ihr Herz gelegentlich heftig klopfen. Nach langem vergeblichem Bellen und Aufkratzen der Erde trollte Bärli sich mit gerümpfter Nase, wie der Fuchs, für den die Trauben zu hoch hängen, der es sich aber nicht anmerken lassen will in seinem Standesstolz!
An einem andern Tag pirschten sich Bärli und Lion, die neugierigen Gesellen, an äsende Gemsen heran. Wollten sie mit den Kitzen spielen oder gar mit den Gemsen um die Wette rennen, als sie flüchteten? Die Narren! Über Geröllhalden setzen, durch Wände und Kamine steigen und bis auf die schwindelnden Grate klettern, wie Gemsen es ohne Scheu und Schauder tun – die Leitgeiss keck und schneidig voraus, die folgsamen Kitzen dicht aufgeschlossen und, in Abwesenheit der Alten, eigene Wege gehend, die halbwüchsigen Böcke als Rückendeckung zum Schluss –, dafür fehlte den Hunden der lange Atem.
Trotzdem wurden sie nachträglich von Julius und Martin gescholten, als hätten sie einem Murmeltier das Fell über die Ohren ziehen oder einer Gemse die Läufe verbeissen wollen. Wildern war keineswegs ihre Absicht, sowenig sie mit der Viper anzubändeln gedachten, der sie einmal bei einem weit ins Tal hinunterführenden Streifzug begegneten. Bärli hob nur die runde Pfote, als wollte er grüssen und sagen: „O, pardon, Madame, nach Ihnen.“ Was die Viper so höflich fand, dass sie prompt im Altlaub der Bergerlen verschwand. Worauf die beiden jungen Hunde um die Wette belferten; nicht etwa wütend und ränkesüchtig, nein, nur so zum Zeitvertreib und aus purer Freude über die neue Entdeckung und die eigene Stimme, die täglich an Umfang zunahm und so rund und voll zu werden versprach wie die eines Heldentenors.
Kleinlaut wurden Bärli und Lion, als ein Steinbock sie anschnauzte, als hätte er es nicht auf ein ritterliches Spiel abgesehen. War ein achtunggebietendes Tier mit grossmächtigem Gehörn. Wie aus der Urzeit erschienen, stand der alte, bärtige Herr unversehens da in seiner grauen, zerschlissenen Winterwolle und senkte das mit dem schweren Gehörn bewehrte Haupt. Die beiden Fürchtebutze waren wie erstarrt, fiepten nicht einmal. Der Steinbock hob das Gehörn wieder, hoch und höher, als wollte er gewaltig ausholen und die kleinen Kreaturen zerschmettern. Doch das Gehörn sauste nicht knallend auf sie nieder. Der Steinbock schnauzte sie nur an, was heissen mochte: „Heb dich weg, du menschendienerisches Gesindel! Das ist mein Weg.“ Und als die stummen Hunde ängstlich wichen, schritt der Uralte, dem Fetzen und Knäuel seines Kleides fast bis zum Boden hingen, an ihnen vorbei auf ein Dorngebüsch zu, drängte sich hinein, drängte sich hindurch, kehrte um, fegte her und fegte hin, liess sich von den Zweigen kämmen und bürsten. Über die Säuberung zufrieden, trollte er sich, gross und schweigsam, das Gehörn sachte drehend. Und die beiden Hunde sahen ihm verwundert nach, weil er ihnen ausser Spott nichts angetan hatte. Dann beschnupperten sie die im Dorngebüsch hangenden Wollfetzen und zogen schleunigst mit gerümpfter Nase ab.
Es war ja alles Neugier, Zeitvertreib und Spass bei ihnen. Sie wollten sehen und erleben, Wunder über Wunder; sie wollten gaukeln, fröhlich sein, sich tummeln, wälzen und balgen, am Spiel der eigenen Glieder sich ergötzen, alle in ihrem Körper wirkenden Kräfte und Spannungen erproben, bis ihnen das Blut in der Kehle klopfte; sie wollten hechelnd müde und hungrig werden, bis zur Sättigung die scharfen Zähne in das noch vorhandene Gefrierfleisch der abgestürzten Franzosenpferde vergraben und dann neben Mutter an der Sonne liegen... blinzeln... dösen... träumen, lieb Kind sein und sich so wohl fühlen wie im Paradies, auch wenn dieses Paradies während drei Vierteln des Jahres im Schnee begraben liegt und ein Spitzbergenklima hat.
Wenn die dem Hospiz-Kloster gehörenden Rebstöcke an der Dora Baltea im Aostatal wie jene an den hitzigen Hängen ob Martinach bereits Trauben angesetzt haben und einen guten Jahrgang verheissen, weicht die Todesstarre auch von der Passhöhe. Wohl gerinnen dort die Wassersträhnen noch fast jede Nacht zu Eis, sind aber an föhnigen Tagen um so lebhafter und stürzen sich, von den Höhen singend, den Tiefen zu, schäumen nach Süden und schäumen nach Norden, die Wasser des Po oder der Rhone mehrend. Endlich von der Sonne wachgeküsst, schlägt auch der kleine See, der zwischen dem Hospiz und der Landesgrenze liegt, sein märchenhaft blaues Auge auf, darin sich an hellen Tagen der Himmel Italiens spiegelt. Diesem Seelein entspringt einer der Zuflüsse der Dora Baltea, die sich in den Po ergiesst, Italiens grössten Fluss, die in die Adria mündet, während die Rhone dunkelrauschend durch Frankreich zieht und nordwärts von Marseille dem Mittelmeer zuströmt.
Mag selbst in der hohen Zeit des Jahres kaum eine Woche vergehen, ohne dass nicht ein Schneegestöber gespenstisch über den Pass hinwegfegt, so regt sich doch weit und breit die das All durchwaltende Kraft der Natur. Statt der bangen Winterstille, die nur von Windgezischel und Sturmgebraus, von der Donnerstimme der Lawinen, von Hilfe- und Verzweiflungsschreien und Hundegekläff unterbrochen wird oder zu Betzeiten von der Glocke des Hospizes, herrscht während des kurzen Bergsommers eine andere Atmosphäre. Hellere und feinere Stimmen werden wach. Zärtliche Vogelrufe, das Summe der Insekten teilen sich Feinhörigen mit. Manchmal springt selbst ein Stein an der Sonnenwärme nicht lautlos. Was aber lebendig ist wie das Wasser, blinkt und singt im Licht des Tages, schäumt und rauscht gross dahin. Heiterer gestimmt scheint auch das Echo. Und der volle Gleichklang des Schellengeläutes langer Saumtierkarawanen beschwingt die Schritte der Wanderer, selbst wenn sie unmusikalisch sind.
Herdenweise überschreiten die Menschen im Sommer auf dem alten Völkerweg den Berg. Zehntausend und mehr können es sein, in jedem Jahr, deren Schuhe über lose Steine und grünspanfarbige Felsen klappern. Bei Sonnenschein ist dieser Marsch keine ungewöhnliche Leistung. Und die meisten marschieren gern, weil sie weder reiten noch fahren können und selten getragen werden, aber doch ans Ziel kommen wollen. Es gibt Tage, an denen sie zu Hunderten die Freitreppe des Hospizes emporsteigen, um in dieser höchsten Wohnstätte, dieser Herberge Gottes, zu rasten und sich verpflegen zu lassen.
Wer sich nicht rechtzeitig auf den Weg machte oder zauderte, sei es aus Wunder- und Plaudersucht oder dass er in der stets dünner werdenden Höhenluft schlapp wurde und vor Erschöpfung nur mehr schleppend und unter Anfeuerung und mit Hilfe der Hunde und der Hospizleute vorwärtskam, konnte im Hospiz nächtigen. War das ein gesegneter Schlaf im allumfassenden Schweigen der Berge, umgeben von den Gipfeln des Mont Mort, der Chenalettaz, des Grand Combin, des Grand Paradiso und von den ferneren Gipfeln des Monatblancmassives! Verblassten dann die Sterne, wartete auf die Schläfer der Übergang, vielleicht ein neues Dasein, eine bessere Zukunft.
Immer sind Menschen unterwegs. Sie kommen von Norden und gehen nach Süden, sie kommen von Süden und gehen nach Norden, kommen aus den Niederungen herauf und gehen wieder den Niederungen und Tiefen zu und tragen, wie die Schnecke ihr Haus, ihr Schicksal mit sich, dem keiner entrinnen kann, mag er reiten oder schreiten, in Stiefeln oder barfuss gehen, wie jenes zarte Mädchen, das einmal einem blassen Engel gleich im Schneelicht daherkam und im Hospiz die ersten Schuhe seines Lebens erhielt.
Bärli war es, der das Mädchen entdeckte. Als er wieder einmal ausriss und den Schneemäusen nachstrich, gewahrte er plötzlich das auf der Erde liegende Mädchen, von dessen Füssen Blut tropfte. Und er leckte die armen, wundgelaufenen Füsse von der Sohle bis zu den Zehen, bis das Mädchen die heissgeweinten Lider hob und ob der ihm von einem Hündchen erwiesenen Zärtlichkeit munter wurde und wieder auf die Beine kam. Hinter dem kleinen Freund hergehend, gelangte es ins Hospiz, sass nun in der Wärmestube und liess sich von neuem von Bärli die zarten Füsse lecken, bis der Bruder Krankenpfleger sie wusch und verband. Martin, der Novize, war dazugekommen, lobte und streichelte den Bärli, litt mit dem Mädchen, das im Drang seiner Seele barfuss durch die Welt ging und sich jeden Abend um den Morgen sorgen musste, bis es irgendwo als Magd dienen würde, was noch kein Glück bedeutet. Von dem Mädchen aufblickend, sah der blonde Jüngling lange der Frau ins Gesicht, die sich ebenfalls in der Wärmestube befand und zwei Paar Schuhe besass. Sie verstand, was Martin sagen wollte, und schenkte dem Mädchen eines der zwei Paar Schuhe. Im Unterland, im Dorf oder in einer Stadt wäre die Frau vielleicht nicht so freigebig gewesen. Aber in diesen Höhen mochte sie erkennen, dass das Diesseits und das Jenseits gar nicht so weit auseinanderliegen und dass man mit einem Paar Schuhe und etwas Güte leichter selig wird als mit zwei Paar Schuhe und geizendem Reichtum. Denn dass sie eine reiche Frau, eine Dame war, sah man ihr wohl an. Von vier Männern hatte sie sich in einem bequemen Sessel über den Pass tragen lassen, in ihrer ganzen Schönheit und mit allen ihren Geheimnissen, von denen niemand etwas wusste, sowenig wie von ihrem Namen.
Wer von den Gästen seinen Namen nicht nennen wollte, wurde nicht danach gefragt. Gewiss gab es unter ihnen auch bekannte Kostgänger, Krämer und Arbeiter und Pilger, die regelmässig kamen wie die Jahreszeiten, wie die Schwalben, wie Gewitter und Schnee. Ohne Ansehen der Religion, des Standes und der Landeszugehörigkeit durften alle Reisenden die Gastfreundschaft, notfalls die Samariterdienste des Hospizes und die Hilfe der Hunde in Anspruch nehmen.
Alle setzten sich an den Tisch und an das nie erlöschende Feuer der Nächstenliebe und warteten mit hungrigen Augen und durstiger Kehle, dass der Gastpater ihnen etwas vorsetze, und wäre es auch nur Brot und Wein.
Nur Brot und Wein? Wer spricht so?
Niemand will es gesagt haben. Brot und Rotwein munden nämlich köstlich. Wer dir Brot und Rotwein vorsetzt, Wanderer, ist ein achtbarer Wirt und des Dankes würdig. Manchem ist dabei, als hätte er sein Lebtag nie besser gegessen, auch wenn das Brot im Hospiz gebacken wurde und nicht knusprig ist. Es soll am Wasser liegen, sagt der Bruder Bäckermeister, dass der Teig nicht genügend aufgeht, und vielleicht auch an der ebenfalls harten Luft. Aber Brot ist Brot. Hier schmeckt es besser als in den Niederungen. Mancher Mensch begreift erst hier den Sinn der Bitte: „Gib uns heute unser täglich Brot.“ Und wenn er den Mund wischt, sagt er treuherzig und deutlich: „Vergelt’s Gott!“
Waren die Leute satt, wollten sie schlafen. Es gab nur wenige Betten im Hospiz. Nicht selten lagen Kranke darin. Auf Bänken und auf dem Boden kauernd oder liegend, verbrachten viele der Gesunden und Starken die Nacht in der Wärmestube. Und waren es sehr zufrieden. Keiner wünschte dem anderen Obdachlosigkeit in diesen rauen Höhen. Menschen wurden hier zu Mitmenschen und gönnten jedem die gemeinsame wohlige Stimmung, den Schutz in den vier Wänden, gönnten jedem seinen Schlaf und Traum. Und niemand ärgerte sich, wenn einer laut im Traum sprach und ein anderer schnarchte, weil nur Tote solches nicht mehr tun können. Und wer möchte seinem Mitschläfer den Tod wünschen?
Im Sommer, wenn die Abende mild und lang sind, kommen die Reisenden und die Klosterleute leichter miteinander ins Gespräch. Die Gesichter der Chorherren sind freimütiger und weniger sorgenvoll als im Winter. Laienbrüder und Marronier sind gar zu einem Scherz oder Spiel aufgelegt. Und die Novizen geniessen den kurzen Sommer wie eine Gnade Gottes, sind doch die meisten unter ihnen des schweren Gebirgswinters noch ungewohnt.
Mannigfacher Freiheiten erfreuten sich die Novizen im Sommer. Es war ihnen gestattet, zum blossen Vergnügen wie zur körperlichen Stärkung in den Bergen herumzuklettern, von einem erhabenen Standpunkt aus die Erde zu betrachten, über ihren Bau und ihre Entwicklungsgeschichte nachzudenken. Unter Anleitung des in der Naturwissenschaft kundigen Chorherrn Murith sammelten sie Pflanzen und bereicherten damit das von ihm prächtig angelegte Herbarium. Auch Kristalle suchten sie und seltene Steine, um sie zu beschriften und zur Schau zu stellen. Mit Vorliebe trieben sich die Novizen in den Trümmern auf dem Jupiterberg herum und gruben nach griechischen und gallischen Münzen, die seltener waren als die Münzen der römischen Kaiser. Doch noch wertvollere Zeugen längst vergangener Zeit wurden auf diesem Völkerweg ausgegraben. Eiserne Fingerringe waren es, bronzene Agraffen, Amulette, Schlangen und Eidechsen darstellend, die von abergläubischen Menschen als wundertätige Tiere verehrt wurden. Bronzene, mit Sticheln beschriftete Votivtäfelchen kamen bei gründlicher Sucharbeit ans Tageslicht. Legionäre, kaiserliche Beamte und Handelsleute hatten sie gestiftet, um damit ein Gelübde zu erfüllen und Jupiter für die geglückte Reise oder wunderbare Rettung aus Lawinengefahr und Nebelnacht zu danken. Dem Novizen Martin glückte sogar der Fund einer römischen Statuette, weil er gerne tiefer grub als die andern.
Nicht bloss von Bergsteigerlust und Forscherdrang waren die Novizen beseelt. Die lebendige Natur sprach sie mächtig an. Dazu gehörten auch die Hunde, mit denen sie spielten, tollten, rangen und um die Wette liefen. Weiter als die anderen lief Martin mit den Hunden. Und rasteten sie abseits, plauderte er mit einem der verständigen Tiere, verriet ihnen wohl Geheimnisse, an denen er schwer trug und um die kein Mensch wissen durfte. Vielleicht war dem lebhaften Jüngling eng in der Kutte? Oder plagten ihn Enttäuschung und Heimweh? Bohrten in ihm Erinnerungen an die Kindheit im Goms, an Stunden der Ungezwungenheit, an Kraft und Wirksamkeit, an ein Mädchen, das barfuss einem Blassen Engel gleich im Schneelicht daherkam? Zweifelte er an seiner Berufung, am Sinn der freiwilligen Armut, am Opferwert der Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung? Sicher war sein Seelenfrieden zeitweise getrübt durch etwas, wofür er keinen Mitwisser haben mochte und das er darum der stummen Kreatur anvertraute, am liebsten dem Bärli, der so verständig tat und ihm gern den Kopf aufs Knie legte, während die anderen Hunde mit sich selbst beschäftigt waren. Als hätte er Bärli alles gesagt, was ihn drückte, sprang Martin dann plötzlich auf, rief die Hunde heran und jagte mit ihnen erleichtert zum Hospiz zurück, bot ein Bild der Kraft und Frische und lachte, dass es durch die Gänge hallte. Das mache der Sommer, sagten die Chorherren und lachten ebenfalls.
Barrys Familie
mit Paul Vuyet
Der Ernst des Lebens
Gar bald war es aus mit den Entdeckungsfahrten auf eigene Faust zum blossen Zeitvertreib und Spiel. Nicht ewig durfte das Brüderpaar dumme Hunde bleiben. Sie sollen etwas lernen, Bärli und Lion, um den Menschen, die aus allem Nutzen schlagen wollen, zu dienen. Vorüber das ungebundene, das zwecklos schöne Dasein. Doch nicht der Spekulation und des schnöden Profites wegen sollten sie gelehrig und fügsam werden. Die Augustiner-Chorherren wollten von ihnen nur Hilfe in ihrem Werk der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Eine Aufgabe, ehrsam und edel genug, um dafür den Naturtrieb zu bändigen und die Freiheit zu opfern. Statt Tiere zu jagen und zu ängstigen, sollten sie Menschenjäger werden, Nothelfer und Retter.
Dafür bedurfte es der Schulung und Zucht. Was ihnen nicht angeboten war, was sie weder mit der Muttermilch getrunken noch von den Rüden, deren einer ihr Vater war, gelernt, wollte Julius den jungen Hunden beibringen. Er war ein Lehrmeister ohne Peitsche und Grausamkeit, hatte aber auch keinen Zucker oder andere Leckerbissen in der Tasche. Blicke und Worte, Pfiffe und Zeichen waren seine Tabulatur.
Julius, der sonst wortkarge Mensch, konnte mit den Hunden reden. Friedlich versammelte er sie um sich, die sechs Rüden, die drei Hündinnen und die zwei tollpatschigen Jungen dazu, die sich noch gegenseitig den Rest der Milchsuppe von der Nase leckten. Als Bärli arglos und vertrauensselig sich wie immer Julius vor die Füsse legte, sagte er in einem bisher ungewohnten Ton: „Bärli, mein Kleiner, pass auf!“
Das wollte er wohl tun, sperrte die Augen auf, wedelte zweimal mit dem Schwanz, was bedeuten mochte, dass er zum Aufpassen bereit sei.
Julius fuhr fort: „Von jetzt an heisst du nicht mehr Bärli, weil du kein Kind mehr bist, sowenig wie dein Bruder Lion. Gross gewordene Hunde müssen einen imponierenden Namen haben. Das begreifst du doch. Also werde ich dich künftig Barry rufen. Verstehst du? Barry werde ich dich rufen, Barry, Barry!
Schüttle nicht den Kopf, als täte das deinen Ohren weh. Es ist mein Ernst. Auf dem grossen St. Bernhard ist alles ernst. Ja, ja, mein Lieber, so ist es. Frag nur deine Mutter. In Frankreich und in Dänemark lebt es sich leichter. Wahrlich, würden wir dich nicht närrisch lieben, hätten wir dich ziehen lassen, der Martin und ich. Es wäre dein Glück gewesen. Verzeih! Hier gilt nur der Glaube.“
Julius schwieg einen Augenblick, als müsste er selbst erst begreifen, was er gesagt hatte. Dann fuhr er in seiner Epistel weiter: „In Frankreich wärest du ein Generalshund geworden oder ein fetter Schlosshund. Es gibt da noch viele Schlösser zu bewachen. Die französischen Rebellen haben dem König und der Königin den Kopf abgeschlagen, Schlossherren und Bettler aber sind am Leben geblieben. Trotz Revolution und Brüderlichkeit haben Reiche und Arme immer noch verschiedene Standpunkte. Und nähert sich so ein Bettler einem Schloss, weil er den Mittagsbraten riecht, muss der Hund ihn in den Hintern beissen. Für den Hund ist das kein Verdruss. Man hat ihn auf Bettler abgerichtet. Und der Schlossherr wird ihn für seine Unmenschlichkeit loben, damit er ein anderes Mal noch heftiger zubeisse und dem Bettler seine Hose vollständig herunterreisse. Hier darf man das nicht tun. Auf dem Grossen St. Bernhard sind alle Hunde Menschenfreunde.“
Still wie eine brave Schulklasse verhielten sich die Hunde, als liebten sie die Menschensprache. Oder vielleicht achteten sie nur seiner Gebärden, weil Julius in Eifer geraten war und gestikulierend fortredete: „In Dänemark, wo die Bettler auch nicht aussterben, könntest du, Barry, als gepflegter Kettenhund auf einem grossen Hof sitzen und ein Faulenzerleben führen. Menschen und Hunde sollten dort fetter sein als hier, weil die Wege eben sind und nie von Lawinen versperrt werden. Dort stürzen keine Menschen in Wildbäche, die sich wie Knochenmühlen drehen. Schön soll es sein in Dänemark, offenes Land um und um. Und dennoch Zäune und Gräben kreuz und quer, damit die fetten bunten Kühe nicht ausbrechen. Alles in bester Ordnung bis an den Nebel, der den Bettlern und kleinen Dieben hold sei. Sonst müssten die Dänen keine Doggen halten. Bettler und Diebe müssen sie abwehren. Anders ist es hier auf dem Grossen St. Bernhard. Hier sind auch die Bettler willkommen, hier werden selbst Diebe gefüttert.
Wäre dem überall so, brauchten sie nicht zu stehlen. Und findet einer den Weg nicht zu uns, so ist es an euch Hunden, ihn getreulich herzuführen wie alle Menschen, denen ihr in der Not begegnet. Es sind nicht wenige. Und so gibt es manchen Tag ohne Feierabend.“
Das war eine lange Rede für einen Mann mit einfachem Verstand. Julius hatte wohl zeigen wollen, dass er auch etwas von der Welt wisse und als Laie Zuritt habe zur Klosterbibliothek mit den unsinnig vielen Büchern.
„Und nun fein aufgepasst!“ mahnte er. „Von mir und den alten Hunden sollen die Jungen lernen, von der Mutter, die ihr kennt, und vom Vater, auch wenn er sich um euch nicht mehr kümmert als die andern Rüden. Ihr müsst tüchtige Hunde werden, du, Barry, und dein Zwillingsbruder Lion, was auch ein schöner Name ist. Alle Hunde müssen einen Namen haben, damit man sie rufen und mit ihnen vernünftig sprechen kann. Nicht wahr?“ wandte er sich an die grössern Hunde und rief jeden mit Namen: „Alpina, Rex, Apollo, Diana, Mars, Bellina, Pluto, Castor und Pollux.“
Alle hoben sie der Reihe nach den Kopf, Alpina, Barrys und Lions Mutter, Pluto und Mars, die Julius der Vaterschaft verdächtigte, ohne es beweisen zu können, die Zwillinge Castor und Pollux und die andern Rüden und Hündinnen mit ebenso wohlklingenden Namen, Namen von Göttern, Helden und Sternen. So haben die Chorherren die Hunde getauft und damit geadelt. Nur dem Lion hat Julius selbst den Namen gegeben, nachdem der Novize Martin schon den Bärli benamst hatte.
Julius liebte Barry vulgo Bärli kaum mehr als die andern Hunde. Wenigstens zeigte er es nicht. Weil alle Hunde gleich wacker und treu sein sollen, darf keiner bevorzugt werden. Hunde haben nicht nur einen verlässlichen Spürsinn, sie haben auch ein feines Gehör und ein empfindliches Gemüt, vielleicht etwas wie eine Seele, hat doch der Herrgott bei der Erschaffung auch die Tiere angehaucht, nicht nur den Adam und die Eva.
Jeder Hund hatte den Kopf gehoben, diesen grossen, charakterfesten Kopf, als er seinen Namen hörte. Ruhig blickten sie auf Julius. Um die schwarze Schnauze ging ein Kräuseln, an das Schmunzeln zufriedengestimmter und bereitwilliger Menschen gemahnend. Auf die geraden Vorderläufe gestützt, erwarteten sie das Zeichen zum Aufbruch, weil sie wenig auf Theorie hielten. Und als Julius den ersten der vier bereitgestellten Packsättel in die Hand nahm, erhoben sich die Rüden in ihrer ganzen Grösse, jeder willig, die Last auf sich zu nehmen. Wie die Säumer ihre Pferde und Maultiere plaudernd beladen, setzte auch Julius vier Hunden je einen Packsattel auf den Rücken und gürtete ihn fest, was die im Lastentragen geübten Hunde ohne langes Zureden geduldig geschehen liessen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Dann ging es auf dem Sommerweg hinunter zu der eine Meile talwärts auf der Schweizer Seite liegenden Alp La Pierraz, die Hunde, die keinen Packsattel zu tragen hatten, in freier Galoppade voraus.
Seit über siebenhundert Jahren war die Alp Eigentum des Klosters. In unzähligen Tagschichten hatten Laienbrüder und Knechte die von Bergstürzen und Lawinen herrührenden Steine weggeräumt und zu Umfriedungen aufgeschichtet, die Erde möglichst ausgeglichen, Sennhütten und Stallungen erstellt. Und der Wind ging als Sämann über das Neuland. Jeden Sommer wird das in Saint-Oyens und andern dem Kloster gehörenden Gütern gehaltene Vieh auf die Alp La Pierraz getrieben, meistens Fleckvieh, wie es im Aostatal gezüchtet und auf den dortigen Märkten gehandelt wird. Mit den noch zugemieteten Kühen wuchs das Senntum über ein halbes Hundert Kühe hinaus, was auch notwendig war, um den Bedarf des Hospizes an Milch, Käse, Quark und Butter zu decken. Im Sommer wurde das Hospiz mit Frischmilch von dieser Alp versorgt. Jeden Tag zog einer der Klosterbrüder oder ein Marronier und gelegentlich auch ein Novize mit den Hunden zur Alp, um in den an den Packsätteln befestigten Holzgefässen oder Ledersäcken die Milch zu holen. Da hiess es sachte gehen; jegliches Wälzen war verboten. Die grossen Käselaibe, Ankenballen und Ziegerstöcke hingegen wurden im Keller der Alp gelagert und gepflegt und erst am Ende der Alpzeit mit Maultieren den Berg hinaufgesäumt, zugleich mit dem vielen Brennholz aus dem Ferrettal.
Nun mussten auch Barry und Lion jeden Morgen diesen Weg machen. Ohne schon selbst Lastträger zu sein, durften sie doch nicht mehr nach Herzenslust stromern und kaum mehr eigenmächtige Entdeckungsfahrten unternehmen. Oft führte man sie auch zur Cantine de Proz hinunter oder südwärts bis zum alten Spittel und darüber hinaus nach Saint-Rhémy. So sollten sie mit Weg und Steg vertraut werden und ihr künftiges Tätigkeitsgebiet kennenlernen. Weil sie dabei überflüssige Kreuz- und Quersprünge nicht unterlassen konnten und sich gegenseitig über alle Wasseradern und Steine hetzten, kamen sie schwitzend und hechelnd zum Hospiz zurück und legten sich gähnend ins Stroh.
Wohl gab es auch tagsüber freie Stunden, da die Jungen sich neben Mutter Alpina kuscheln durften, bis sie wieder Lust und Laune zu Spiel und Schabernack ankamen. Dazu gehörte auch das Hänseln und Necken der grossen Hunde, bis aus dem Spiel Ernst wurde und sich die Alten gegen die Jungen mit Prankenhieben wehrten; es ging nicht ohne Biss ins Genick ab; ja, Bärli hätte einmal beinahe ein Ohr lassen müssen, wäre ihm nicht Martin zu Hilfe gekommen. Als Andenken an diese Vermittlung blieb dem Novizen ein Narbenstrich über die linke Wange, ein Schmiss, wie die Kameraden spotteten. Doch es hätte schlimmer ausgehen können.
Barry und Lion wurden darob nicht etwa zurückhaltender oder gar frömmer. Scheuten sie grössere Auseinandersetzungen, so fehlte es ihnen nicht an Gelegenheit, unter sich zu händeln und zu streiten, sei es um einen Knochen, einen Strick oder gar um einen alten Schuh, den sie gerade irgendwo gefunden hatten. Bis der Schuh zerfetzt war, gaben sie keine Ruhe. Sie zernagten und zermalmten überhaupt alles, was sie zwischen die starken Zähne bekamen, so auch das Fleisch, das man ihnen nicht vorenthielt und das besser schmeckte als die Maissuppe, der die beiden jungen Hunde mit abschätzigem „Blaff, blaff!“ auswichen, bis der Hunger die Kostverächter zähmte und zur gemeinsamen Mahlzeit trieb.
So gehen die Tage hin bei Sonnenschein und Kurzweil in der grossartigen Alpenwelt, die selbst müde Wanderer wie fluchende Säumer bewundernswert finden, ohne darüber Worte zu verlieren, weil man die rechten doch nicht findet, ach Gott!
Doch kann es auch im Sommer geschehen, dass ein Unwetter alle Zeichen und Bilder der Schönheit verdüstert und selbst die sonnengebräunten Gesichter der Männer und Jünglinge noch dunkler werden lässt. Sommergewitter fahren mit dröhnender Macht daher. Giftige Winde sind ihre Vorboten und verwischen alle frohen Farben. Die erst noch in der Sonne licht aufschäumenden Wolken werden unversehens wulstig schwer, finster, blitz und donnerträchtig. Eine Wolkenwelle treibt die andere. Und flieht sie nicht, so wird sie von der folgenden geritten, mag sie sich dagegen aufbäumen, wie sie will; sie wird überrumpelt, überwalt, breitgedrückt, damit sich andere aufstocken, bis zur Sonne türmen können, die dann zündrot im Gewühl versinkt. Wie in bekümmerte Erwartung stehen die Berge da. Nachtdunkel wird der himmelblaue See. Grattiere und Schafe drücken sich wie hingepeitscht ins Geklüft. Steinen gleich fallen die Vögel zur Erde. Mit hoch erhobener Schwanzfahne rast die Leitkuh der Herde voraus von der Weide zu den Gaden. Und sind Menschen unterwegs, so hoffen sie, dass es ihnen gelingen wird, eine Schutzhütte oder das Hospiz zu erreichen, ehe das Unwetter losbricht. Schon zünden die Blitze schwefelgelb durch die schwüle Luft. Knurrend und grollend reisst der heisere Sturm den verklumpten Wolken die Flanken auf. Und nun folgt Strahl auf Strahl, Schlag auf Schlag. Miteins setzt der Regen ein, erst nur in silbernen Strähnen, nach neuen Blitz- und Donnerschlägen aber mit rauschendem Strömen, darob die Wildbäche tosen; Hagelwirbel kann mit so scharf gezielten Schlossen folgen, dass selbst die vor Alter grünspanfarbenen Felsen wimmern, als würden sie gegeisselt. Wehe dem, der jetzt schutzlos den Hagelkörnern nicht entrinnen kann. Sie zerschneiden ihm das Gesicht, lassen die Augenlieder anschwellen. Hält er schützend die Hände darüber, dann nimmt er sie aufgedunsen weg. Und das angsterfüllte Herz droht beim nächsten Donnerschlag zu zerspringen. Einmal erschlug der Blitz in der Totenkumme drei brave Männer, erschlug alle drei gleichzeitig und schwärzte ihre Gesichter und Leiber derart, dass das abergläubische Volk sich davor bekreuzte, als hätte der Böse sie gestraft und gezeichnet.
Sommergewitter weichen die letzten Schneefetzen auf und fressen Löcher in die noch den Weg querenden Lawinenresten, so dass der Wanderer bei jedem Schritt tiefer sinkt und schwer haftenleibt, als hinge die Erde an seinen Füssen. Wenn dann von ferne Hundegebell ertönt, die zwischen zwei Donnerschlägen eintretende Totenstille belebend, blickt der Wanderer hoffend auf, obwohl die Augen ihn wie einen Blindgeschlagenen schmerzen und Gesicht und Hände jämmerlich brennen. Von den Hunden angerufen, richtet er sich auf und unternimmt vertrauensvoll einen neuen Anlauf. Wenn ihm aber vor Erschöpfung und Atemnot das Blut in den Schläfen hämmert, lässt er den Kopf wieder sinken, er seufzt und stöhnt wie auf einer Folterbank. Ihm versagt der Atem, es versagt der Wille. Die Lebenskraft schwindet. Und wieder legt sich ein Mensch hin, der nie mehr aufstünde, wenn keine Hilfe käme. Und die Abendglocke könnte seine Totenglocke sein.
Welch Glücksfall, wenn auf einmal aus der herabsinkenden Dämmerung ein Bernhardiner auftaucht, wenn ein Hund, das älteste und vertrauteste Haustier, der zuverlässige Freund des Menschen, daherspringt und mit warmer Zunge die Stirn des Liegenden berührt, ihn mit einer in alle bereits abgestumpften Sinne eindringenden Zärtlichkeit weckt, keine Ruhe gibt, bis der Mensch, der da am Boden liegt, nicht mehr schlafen will, wieder zu Worte kommt, auf sein Bellen Antwort gibt, die Freude des Finders durch irgendeine Bewegung, ein Zeichen erwidert, sich mit letzten Kräften erhebt und dem vierbeinigen, sachte und sicher auftretenden Führer folgt.
Und fehlt dem Menschen dazu die Fähigkeit, stürmt der Hund mit hellem Gebell den Berg hinauf, Wasserstürze und Steinschlag nicht scheuend, ruft und klagt um Hilfe, klagt selbst wie ein Verletzter und am Sterben eines einsamen Menschen Teilnehmender. Er klagt nicht umsonst, heischt nicht umsonst Hilfe. Die Chorherren, Diakone, Novizen und Laienbrüder sind wach und feinhörig, wie die Marronier und allzeit bereit. Sie folgen dem Hund, der sie sicher führt. Und so ist aus manchem wütenden Sturm, aus mancher Mitternacht ein Mensch mit ihrer Hilfe ins Hospiz gekommen und konnte am nächsten oder übernächsten Tag seine Schuhe wieder anziehen und binden und weitermarschieren, andern Passgängen nach.
Drill im Schnee
Kurz wie ein schöner Traum ist der Bergsommer. Kaum begonnen, schon ist sein glänzendes Gewand eingesponnen mit Mariengarn, schon liegt in der Luft der Hauch des Vergehens. Mit Reif in den Haaren steigen die Vorboten des Herbstes von den Kämmen herunter. Und ehe die Hirten jauchzend und jodelnd das Vieh von den vielen auf dem Gebiet der Gemeinde Bourg-St-Pierre liegenden Alpen treiben, legt sich um das Hospiz eine dünne Schneeschicht um die andere.
Auch auf La Pierraz rüstet der Senn zum Alpabzug, wobei ihm ein Chorherr in abgetragener Soutane behilflich ist. Säumer bringen die safrangelben Käselaibe, die weisslichen Butterballen und fahlbraunen Ziegerstöcke ins Hospiz hinauf. Das Vieh wird geteilt und abgetrieben, eine Herde zieht das Tal hinaus, die andere über den Berg. Drei melke Kühe werden im Hospiz zurückbehalten. In dem unter der Küche liegenden Stall ist ihr Winterquartier, das im Schober nebenan aufgestockte Wildheu ihr Futter. Es ist höchste Zeit, dass die andern Kühe über den Berg kommen. Wütendes Schneetreiben setzt ein.
Gilt es schon den Winterweg zu markieren, oder ist auch diesen Höhenmenschen wie den Schafherden von Aosta, die diesseits wie jenseits der Passhöhe gesömmert werden, mit einem sonnigen Nachsommer noch eine Gnadenfrist beschieden? Soll man den Winden trauen, die den Himmel blankfegen?
Ratsamer ist es, zeitig daran zu denken, die in den Gemeindewäldern von Bourg-St-Pierre geschlagenen Pfähle und Stangen in gemessenen Abständen aufzurichten, damit sie bei hohem Schnee den Reisenden und Säumern als Wegweiser dienen. Diese Aufgabe wird von den Hospizleuten gemeinsam mit den Bordillons ausgeführt. Auch die Wegknechte von Saint-Rhémy säumen nicht, den Winterweg zu kennzeichnen und an schwierigen Stellen Seile anzubringen, die Gleitenden Halt bieten sollen.
Immer waren die Hunde unterwegs. Als treue Wächter begleiteten sie die Kühe über den Berg und hielten das Jungvieh in Schranken. Sie beschnupperten und nässten jeden Pfahl und jede Stange; auch die Seile berochen sie und zerrten daran mit vereinten Kräften, als ginge es darum, der Menschen Werk auf seine Haltbarkeit zu prüfen. Mehr noch galt es zu erfahren und zu erleben in diesen Tagen der Vorsorge. Zu Barrys und Lions Entsetzen verschwand ihr lieber Freund und Meister Julius auf einmal in einer Schneewächte. Der ebenfalls anwesende Martin brach das Staunen der Hunde, indem er rief: „Was glotzt ihr so dumm? Marsch! Macht rasch, rasch! Hopp, hopp! Sucht den Meister, sucht ihn!“ Und als die Jungen immer noch nicht verstehen wollten, warf sich Mutter Alpina in den Schnee und scharrte Julius heraus, wofür sie herzhaft gelobt wurde.
Doch die beiden Wurfbrüder Barry und Lion wollten nicht verstehen. Waren sie noch zu jung, um ernsthaft zu lernen? Mussten sie erst noch wachsen? Tolpatschig standen sie da, die breiten Schädel gesenkt, die Ruten eingezogen. Auch als Martin einige Schritte weiter im Schnee versank und diesmal Julius einen ganzen Schwall von Appellworten über sie ergehen liess, rührten sich die Bengel nicht.
Erst nach fortgesetzten Übungen heulte Barry endlich einmal auf und suchte nach dem im Schnee verborgenen Mann, bis er ihn fand und hechelnd ausgrub. Nachdem ihm die Befreiung geglückt war, bekundete er helle Freude, peitschte seine Flanken mit der Rutenspitze, sprang an Martin hoch, liess sich an den Vorderpfoten fassen, bebte vor Wonne.
„Ja, ja“, sagte Martin, „bist ein Braver, willst ein wackerer Barry werden, ein Mann, ein Helfer, auf den man sich verlassen kann.“ Und dann umarmte er den erregten, an ihm aufstehenden Hund wie einen treuen Gefährten.
Solcher Suchunterricht gehörte bei vermehrtem Schneefall zum Tagespensum, wobei die Schwierigkeiten durch grösser gewählte Entfernungen und in nächtlichen Stunden gesteigert wurden. Unbemerkt verliessen Julius und Martin das Hospiz und wühlten sich irgendwo in den Schnee ein. Später wurden dann die Hunde vom zweiten Marronier oder einem Novizen aus dem Zwinger gelassen. Auf das Geheiss, nach Julius und Martin zu suchen, stoben sie davon, verhofften hier, verhofften dort, als müssten Zeichen oder bloss Luftzug ihnen die Verstecke verraten. Bei günstigem Wind witterten die Hunde einen Menschen kilometerweit, auch wenn keine Fährte zu ihm führte, vermochte doch der Wind eine Spur mit wenigen kräftigen Stössen zu verwischen, als wäre nie ein Mensch da gegangen.
Doch mochte einer noch so spurlos im Schnee versunken sein, die Hunde vernahmen mit ihrem rätselhaft scharfen Gehör seinen Herzschlag und gruben diesem nach, von Besorgnis angetrieben. Wollte der Gefundene die Augen nicht öffnen und sie ansehen, sich nicht regen und erheben, so sprachen sie ihn mit „Wau, wau!“ an, leckten ihm wimmend das schneenasse Gesicht, legten sich zu beiden Seiten hin, um ihn zu erwärmen und zu beleben. Indessen rannte einer der Hunde zum Hospiz zurück und rief um Hilfe, überschlug sich heulend, so sehr bedrängte die Angst sein Gespür. Und die Hospizleute rüsteten sich, um die Übung regelrecht wie in einem Ernstfall zu Ende zu führen.
Was die Hunde spielend gelernt, wurde ihnen Lebensaufgabe. Neue und dichtere Schneedecken senkten sich nieder, als wollten sie alles in ihre Gewalt bringen. Über Nacht verwehten die Winde den tags zuvor ausgetretenen Pfad. Die Menschen aber gaben sich nicht bezwungen. Sie wollten ihr Ziel erreichen, so fern es sein mochte. Und weil den Reisenden kein anderer Weg blieb, strebten sie dem Gebirge zu. Damit war wieder die Zeit angebrochen, da die Klosterleute täglich mit den Hunden ihre Pflichtgänge machen mussten, um verirrte oder erschöpfte Wanderer aufzustöbern und in die „Herberge Gottes“ zu geleiten. Bei der wachsenden Schneehöhe und den trügerischen Verwehungen war das kein Gang durch eine märchenhafte Winterlandschaft, voll anmutiger Poesie der sich auf- und niederwellend am glitzernden Horizont verlierenden Linien. Es war kein ungetrübtes Traumbild der Natur; eher glich das Schneefeld einem unendlich weit ausgebreiteten Leichentuch, dessen Saum von Tränen nass ist. Staublawinen gingen nieder, wenn das Leichentuch plötzlich irgendwo einen Riss bekam, der mächtig auseinanderklaffte und ins Endlose ging. In breiten Schwaden glitt der Pulverschnee von den steilen Hängen, wie Wogen brandend und die Luft mit pfeifender Geschwindigkeit vor sich hertreibend. Wehe dem Wanderer, der in diesen Gratzug geriet, wehe ihm! Wie eine Vogelfeder wird er hochgehoben und in die Tiefe geschleudert oder gegen einen Felsen geworfen und mit den Fetzen des Leichentuches zugedeckt.
Besser als die Menschen ahnen und wittern die Hunde zum voraus die Lawinen wie arglistige Feinde, denen es zu entrinnen gilt. War Gefahr im Anzug, so begannen sie zu winseln und zu jaulen, drängten gegen die Zwingeröffnung und verlangten hinaus. Und fiel die Schranke, so rasten sie in Meuten aufgeteilt oder auch vereinzelt in das weite weisse Gefilde hinein, wo es Menschen geben konnte, die mutterseelenallein waren. Keiner der Hunde blieb zurück, keiner drückte sich von Pflicht und Gefahr.
Bildnis des hl. Bernhard von Menthon
Erste Rettung
Um die Weihnachtszeit war es, an einem unzeitigen Föhntag, als sich Barry in der Combe des Morts nach dem Niedergang einer schief geschobenen Staublawine von der Meute absonderte und mit wachem Gespür hin- und herstapfte, als wäre sein Tagwerk noch nicht vollendet. Schon dämmerte es, schon waren die Berge nur noch als Silhouetten erkenntlich, als Barry ein langgezogenes wehes Rufen ausstiess und damit eindeutig verkündete, dass er noch auf einen Menschen gestossen sei. Ehe die andern Hunde zur Stelle waren, hatte er das Gesicht des Verschütteten freigescharrt, beleckte es mit seiner warmen Zunge, bis der Mensch unter der sanften Mühe erwachte und die Augen aufschlug. Im Schneelicht erkannte er den Hund, der ihn still anschaute, als wollte er fragen: „Weisst du, wer ich bin?“
Inzwischen hatte einer der Hunde die Hospizleute alarmiert; sie liessen sich trotz der noch bestehenden Lawinengefahr an die Unfallstelle führen, wo der Verschüttete von Barry und Lion mit stürmischem Gebell wach gehalten wurde. Nachdem man ihm Cognac eingeflösst und ihn vollständig aus dem Schnee gehoben hatte, wurde er auf eine Bahre gebunden und im Licht des aufgehenden Mondes ins Hospiz getragen. Ein Stern nach den andern leuchtete am frostklaren Himmel auf, der anzusehen war wie ein grosser, glitzernder Lichterbaum und der den Tod vergessen liess, der die kleine Prozession umkreiste.
In der Wärmestube nahm sich der Pater Krankenpfleger des lebend Geborgenen an. Hände und Füsse waren beinahe erfroren. Der Pater hiess die Novizen einen Bottich mit Schnee und Wasser füllen für ein Fussbad. Auch die Hände wurden mit Schnee und Wasser gerieben, bis in den vor Kälte gefühllos gewordenen Gliedern das Blut wieder zu kreisen begann und das Herz nicht mehr stockend schlug.
„Gott sei Dank!“ sagte der Pater. „Eine Viertelstunde länger in der Lawine, und Sie wären im Jenseits erwacht. Sicher aber hätte man Ihnen Hände und Füsse amputieren müssen, wonach Sie nur noch das Zerrbild eines Menschen gewesen wären.“
Der Gerettete sah ihn sprachlos an. Meinte der Pater es wirklich ernst? Was war mit ihm geschehen? Er betrachtete seine lieben Finger, griff nach seinen Zehen, darin ein Reissen und Prickeln war, als ob er Ameisen säugen müsste. Dann murmelte er wie im Traum und fragte endlich erschrocken: „Zehen und Finger abschneiden? Sind Sie Wunderarzt?“
„Im Notfall müssen wir alles wagen. Mit Gottes Hilfe werden wir mächtig und schneiden ins lebendige Fleisch.“
„Mit Gottes Hilfe schneiden Sie? Das sagen Sie so sicher. Dann sind Sie wohl auch der Ansicht, dass der Hund mich mit Gottes Hilfe gefunden hat. Ich selbst glaube auch an Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde. Abergläubisch bin ich jedoch nicht.“
„Halten Sie es, wie Sie wollen. Immerhin danken Sie Gott, dass Sie noch am Leben sind und alle Ihre Glieder haben. So selbstverständlich ist das nicht.“
„Dafür muss ich wohl vor allem dem Hund dankbar sein, der mich gewittert und gefunden und sich um mich bemüht hat, bis ich wieder wach wurde.“
„Gewiss, auch dem Hund können Sie dankbar sein. Übrigens sind Sie der erste Mensch, dem unser Barry das Leben gerettet hat. Er ist ein Anfänger. Wohl hat er schon manchem Reisenden den Weg hierher gewiesen. Was er an Ihnen getan hat, ist mehr.“
„Barry heisst der Hund? Ich will ihm dankbar sein. Und Ihnen danke ich dafür, dass Sie mir nicht die Finger und die Zehen abgeschnitten haben. Jetzt aber möchte ich schlafen, schlafen.“
Der junge Mann schlief, schlief eine Nacht und einen Tag, ass und trank, legte sich wieder hin und schlief weiter, weil er sich immer noch zu schwach fühlte, um seinen Weg fortzusetzen. Als er ausgeschlafen hatte und seine Sinne unverdämmert waren, dachte er über seine Rettung nach. Eigentlich war sie wunderbar. Das konnte er wohl sagen. Um alles richtig zu bedenken, begab er sich zu den Hunden, wollte Barry liebkosen, wurde aber angeknurrt, weil Barry nicht Lust und Zeit zum Tändeln hatte.
Der Jüngling ging treppauf und treppab, suchte auch die Kirche auf, wo er lange vor dem holzvergoldeten Reliquienschrein des heiligen Bernhard kniete, in Gebet und Gedanken versunken. Auf einmal meldete er sich wieder beim Pater Krankenpfleger und sagte: „Sie hatten recht. Gott hat mir geholfen. Hätte Barry mich nicht gefunden, wäre ich jetzt tot. Wäre das Hospiz nicht da, gäbe es hier keine Hunde. Das Hospiz aber ist vom heiligen Bernhard gegründet worden, nicht zufällig und ungefähr. Gott hat ihm den Gedanken dazu eingegeben. Also doch Gott, wie wunderbar! Ihm muss und möchte ich vor allem danken. Könnte ich den Ordensobern sprechen?“
„Das ist der Propst. Aber der residiert in der Stadt Martinach, antwortete der Pater Krankenpfleger.
„Und hier, wer ist hier der Höchste, der mich über den Orden aufklären kann?“
„Das wäre auch mir möglich. Aber gehen wir lieber zum Prior.“ Im Empfangszimmer trat dem Neugierigen einer dieser grossen, hageren Männer entgegen, wie sie, von Gottes Nachbarschaft gezeichnet, im Gebirge nicht selten sind.
„Hochwürden“, sagte der junge Mann, „ich heisse Gaston Sirisin und war wohl schon tot. Einer Ihrer Hunde, der Barry, und der Pater Krankenpfleger haben mich gerettet – mit Gottes Hilfe. Sonst läge ich noch in der Lawine oder stünde an ein Streckbett gebunden im Totenhaus. Zum mindesten müsste ich ohne Finger und zehenlos ein zweites Leben beginnen, das Leben eines Krüppels. Wem und wie soll ich dafür danken, dass ich noch ein vollständiger Mensch bin?“
„Danken Sie Gott für Ihre Rettung. Wir sind nur sein Werkzeug“, war die schlichte Antwort, womit der Prior alles gesagt zu haben glaubte.
„Werkzeug?“
„Um den Reisenden beizustehen.“
„Nun, wenn Sie es selber so nennen, Hochwürden, möchte auch ich ein solches Werkzeug werden, ein Werkzeug in der Wildnis, wenn Sie mich dazu formen wollen.“
„Überall können Sie Gott dienen und den Menschen helfen, wenn Sie den Willen dazu haben.“
„Ich möchte es hier tun und in den Orden der Augustiner eintreten.“
Zögernd fragte der Prior: „Haben Sie das wohl überlegt, was es heisst, der Welt ganz zu entsagen und in Schnee und Eis auszuharren und sich an der Enthaltsamkeit zu freuen?“
„Ja, ich habe viel überlegt, vielleicht nicht alles. Und so möchte doch mein zweites Leben hier beginnen, wo es mir geschenkt wurde. Eigentlich war ich tot, tot. Dann geschah ein Wunder an mir.“
„Ein Wunder war es nicht“, wendete der Prior ein. „Es ist bloss erstaunlich, was unsere Hunde leisten, als hätten sie eine besondere Gnade dazu. Denn mit dem Drill im Schnee ist ihnen nicht alles beizubringen. Es liegt am Sinn, den die Hunde haben.“
„Auch ich habe den rechten Sinn wohl immer schon gehabt. Und nun er geweckt ist, möchte ich mein zweites Leben dem heiligen Bernhard weihen und den Hunden bei der Menschenrettung beistehen.“
Der Prior sah dem vom Gefühl der Erkenntlichkeit erfüllten jungen Mann in die Augen und sagte: „Um in den Orden der Augustiner einzutreten, bedarf es mancher Prüfung. Wenige bestehen sie, weil nicht viele berufen sind.“
„Prüfen Sie mich, Hochwürden! Prüfen Sie mich! Ich bin bereit.“
„So in aller Eile geht das nicht“, beschwichtigte der Prior. „Es braucht Jahre dazu, grelle Tage und lange dunkle Nächte. Doch vorerst könnte ich Sie mit jemandem zusammenbringen, der über den Anfang hinaus ist und Sie aufklären kann. Unter Jugendlichen lässt sich freier reden.“
Der Prior brachte ihn mit Martin zusammen und hiess sie einen Spaziergang machen, dabei überlegend, dass ein solches Gespräch auch für Martin eine Bewährungsprobe sein könne, hatte er doch in letzter Zeit ein zwiespältiges Wesen gezeigt.
Von Barry und Lion begleitet und sich an ihrem Spiel ergötzend, verfielen die beiden Jünglinge gleich in einen vertraulichen Ton.
„Du möchtest Chorherr des heiligen Augustin werden?“ fragte Martin den ungestümen Gaston Sirisin. „Da müsstest du erst als Postulant aufgenommen werden.“
„Bekomme ich dann schon eine Soutane?“
„Nein, du behältst deine Zivilkleider, damit du jede Stunde wieder gehen kannst, wenn du des Klosterlebens und der Bergeinsamkeit überdrüssig wirst oder gar den Koller kriegst, was bei uns Jungen nicht selten ist.“
„Und wenn ich den Koller nicht kriege und nicht gehe?“
„Dann kannst du Novize werden und bekommst eine Soutane“, erklärte Martin und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Wie lange dauert das Noviziat?“ fragte der Schwärmer weiter. „Bis zur Selbstverleugnung. Mit der Ablegung des ersten Ordensgelöbnisses wird einer Profess, später mit den niederen Weihen Minorist und schliesslich Diakon.“
„Eine lange Stufenleiter.“
„Führt aber auch hoch hinauf. Dazu braucht es an die acht und mehr Jahre Studium in Sprachen, Literatur, Geschichte, Naturwissenschaften, Theologie und andern Fächern und obendrein geistige Übungen zu allen Tag- und Nachtzeiten.“
„Und Hundezucht natürlich“, wollte Gaston Sirisin eifrig ergänzen und atmete schwer.
„Damit befassen sich zur Hauptsache die Marronier. Die eignen sich dazu besser als die Geistlichen.“
„Freilich“, bemerkte Sirisin etwas enttäuscht. „Wie sollte einer, der so lange studiert, bloss Hundezüchter werden. Acht Jahre? Und immer da oben im Schnee. Das ist eine schwere Verpflichtung, eine heldenhafte Leistung.“
„Acht Jahre und mehr“, fuhr Martin eintönig weiter. „Je nachdem. Ehe man die vollen Weihen als Chorherr erhält, bleibt man entweder als Diakon im Hospiz oder wird auf eine Pfarrei versetzt, die unser Orden im Entremonttal und in etlichen andern Gemeinden des Wallis betreut.“
„Ach Gott seufzte der junge Mann. „Das ist eine sehr lange Entwicklung.“
Martin fuhr in absichtlich ernstem Ton weiter: „Und das bedeutet nicht die oberste Stufe. Jedem Chorherrn steht schliesslich der Weg frei zum Prior oder gar zum Propst, wenn es Gottes Wille ist.“
„So weit möchte ich gar nicht kommen.“
„Schon der Chorherrentitel an sich ist erstrebenswert. Allerdings, bis einer das Kleid des heiligen Augustin tragen darf, das übrigens jenem der Leutpriester entspricht und den Träger nicht etwa durch einen Orden oder eine goldene Kette, sondern bloss durch ein schmales weisses Band auszeichnet, ist man undenkbar vielen Prüfungen ausgesetzt.“
„Sind sie hart, diese Prüfungen?“
„Das ist verschieden. Für den einen können sie mässig sein, für andere martervoll, wie auch die Frühbetglocke und der Wechselgesang nicht jedem gleich in den Ohren klingen.“
Gaston Sirisin war wortkarg geworden. Verlegen sah er auf seine Finger, deren Haut sich schälte. Martin aber fuhr unbeirrt weiter: „Bis zur Entsagung ist es ein dornenvoller Weg, ein schwerer Kampf gegen das eigene Menschtum, das überwunden und erdrosselt werden muss, damit man von ihm frei wird.“
„Das ist kein Leben!“ rief Gaston Sirisin, sah Barry an und fragte Martin plötzlich: „Liebst du die Hunde?“
„Gewiss, solange ich darf.“
„Darfst du das nicht immer?“
„Bin ich einmal Chorherr, hört es auch mit dieser Liebe auf. Als Chorherr des heiligen Augustin muss man allem entsagen und darf nichts lieben ausser Gott.“
„Könnte ich nicht Hundewärter werden?“
„Leider nicht. Wäre das möglich, so hätte ich selbst mich vielleicht dazu entschlossen. Das ist Aufgabe der Marronier oder Führer. Marronier werden kann nur ein Bürger von Bourg-St-Pierre oder Saint-Rhémy, dem ersten Dorf am Südhang des Passes. Das ist Vorrecht, das bis ins 14. Jahrhundert zurückgeht. Auch die Marronier haben kein leichtes Leben. Nicht jeder eignet sich für diesen Beruf. Es müssen ausdauernde, willensstarke und wetterfeste Männer sein, bereit, ihr Leben im Dienste der Nächstenliebe zu opfern. Mancher dieser treuen Männer hat in einer Lawine den Tod gefunden.“
„Schrecklich!“ rief der junge Mann und fror an allen Gliedern. Ohne weitere Erklärung verzog er sich. Später sass er in der Gaststube, trank roten Wein, sah auf seine Finger, die ihn juckten, dehnte die Arme und murmelte nach jedem neuen Schluck: „Ich will leben, leben, leben.“ Nach dem letzten Schluck erhob er sich, suchte Barry, seinen Retter, auf, um sich von ihm zu verabschieden, und torkelte dann durch den Schnee einer frisch ausgetretenen Fährte nach, auf der es der grossen Welt zuging, die voll Erregung und Lockung ist und darin die Menschen herumgetrieben werden wie Ameisen, wenn eine Pflugschar ihre Weltordnung durchkreuzt.
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Anfang und Fortsetzung
des Buches „Barry“ ist als E-Book für den Verkauf im Winter 2016/2017 vorgesehen.
Datenerfassung und Aufbereitung Antonio E. Fux und Nora Fux - Zryd Wichtrach/Grächen – Sommer 2016